Aus deutschem Hinterwald


Frank Sporkmanns "Fidibus" unter Armin Petras' Regie in Leipzig uraufgeführt Schicksalstag 21. März - Frühlingsanfang. Sie hat die Versandhaus-Blümchenbluse gekriegt und im Vorgarten die Krokusse besprengt. Er hat im Kalender ein Kreuz gemacht. Nicht wegen der Blümchen. Wegen Koslowski, dem Eigenbrödler. Der hat sich an diesem Tag aufgehängt. "Ist doch schon zu wissen, wenn im Dorf etwas geschehen ist", sagt er und sie: "Aha." Erhellenderes haben die beiden in Unterzeug gewandeten Wabbelbäuche nicht mitzuteilen. Aber reden muß man ja irgendwie. Oder fernsehen. Oder saufen. Oder bumsen. Wenn sie ihm kichernd das kippelnde Schnapsglas auf die Glatze stellt, ist das fast so erregend wie die jährliche Busreise nach Berchtesgaden. Ansonsten ist die Wahrnehmung von Wirklichkeit nicht ungedingt durch eine Ereignisschwemme getrübt. "Uns geht's gut", sagt sie und zählt auf: "Weihnachten, Ostern, Pfingsten. Manchmal denk ich, da müßte es noch was geben. (Lange Pause.) Aber mir fällt nichts ein."
Weil ihr nichts einfällt, fällt ihr manches auf. So etwa, daß es ihn immer wieder dienstags, wenn die Rothaarige im Fernsehen ist, übermannt, daß er aufs Klo muß und … Doch heute ist zum Glück Donnerstag. Und da will sie ihn, und er will sie nicht. Weshalb sie ihn beharrlich ans zweite Kreuz in seinem Kalender erinnert, das für Frau Belatzki, die schöne Polin, die an einem schönen Herbsttag ganz überraschend in ihrem schönen Haus verbrannt ist. Hat er nun mit ihr oder hat er nicht?
Um diese und ähnliche erhebende Fragen dreht sich's in Frank Sporkmanns "Fidibus", das jetzt im Leipziger "Horch und Guck", einer Intimspielstätte des städtischen Schauspiels, uraufgeführt worden ist. Ein kleines Stück aus deutschem Hinterwald und dumpfem Hinterhalt. Ein Thema, das an den jungen Kroetz, eine Sprache, die an Horvath erinnert. Wo der Stille notiert, steht bei Sporkmann Schweigen. Manchmal heißt es auch Sie trinken, manchmal Beide lachen. Doch zu lachen gibt's nicht viel. Weder fürs Publikum noch für das fast unbewegt auf weichen Sofakissen klebende Ehepaar. Dann und wann ein mattgeiles Reiben am Schenkel , hin und wieder eine schnell in Kraftlosigkeit erschlaffende Geste. Stimmen, die tonlos aus der Gruft kommen oder ohrenbetäubend zetern, schmatzen, grunzen. Zwischenlagen sind längst perdu.
Genießerisch läßt Michael Mechel die Augen über die Decke und die Zunge über seine fleischigen Lippen gleiten. "Jeder ist für sein eigenes Leben verantwortlich", sagt er, und seine liebe Frau (Martina Eitner-Acheampong) nickt bekräftigend: "Das ist das Wichtigste." Auch sonst ist klar, was wichtig ist. Fußball, Porno und einmal in der Woche sturzbesoffen und bekotzt auf allen Vieren. Wer vergewaltigt und Häuser anzündet, bleibt ein Mensch, wer schwul ist und eine Amsel rupft, ist keiner. Solche Gewißheiten keimen nicht auf der Chaiselongue. Man gewinnt sie alljährlich neu in Berchtesgaden. Beim freien Blick über die Berge. Bei den "Erinnerungen an den Führer und Eva Braun und seinen Schäferhund".
Sporkmann steigt mit seinen Figuren tief hinab. Dorthin, wo nichts mehr sich regt, wo es so dunkel ist, daß ab und an ein kleines Feuer angezündet und "Fidibus" gespielt werden muß - wie es die bewunderten Dorfveteranen annodazumal auf den Kameradschaftsabenden im Kessel von Stalingrad zu tun pflegten. Einer steigt mit Zeitungsbüscheln um die Hüften auf den Tisch, und die anderen versuchen, den wild Tanzenden anzustecken. Fidibus, erzählt unser Sofafurzer beiläufig, haben alte und neue Kameraden auch im Haus der Belatzki gespielt. Und dann sind sie alle, bis auf Koslowski, den Schlappschwanz, "über sie drüber". Aus Rache. Für die Schminke im Gesicht und für die "säuischen Strümpfe", für ihren Mann, "der noch Arbeit hatte" und dafür, daß sie Ausländerin gewesen ist.
Der Abend in Leipzig ist eine zweifache Entdeckung: die eines unbekannten Autors und die eines bekannten Regisseurs von einer unbekannten Seite. Der 42 Jahre alte Sporkmann stammt aus der DDR, er war lange mit Publikations- und Aufführungsverbot belegt, seine mehr als dreißig Theaterstücke sind größtenteils ungespielt. Der knapp zehn Jahre jüngere Armin Petras, Regieturbo in Nordhausen, Leipzig und gelegentlich Berlin, hat sich bislang durchs obligate Verhackstücken klassischer Texte und allerhand eigenwillig Kunstgewerbliches einen Namen gemacht. Jetzt treffen sich der Unbekannte und der unbekannte Bekannte zu einem ersten Zusammenspiel. "Fidibus" in Leipzig ist kein Hokuspokus. Es ist realistisches Menschentheater. Auf dem Sofa sitzen weder Spießer noch Monster. Es sind Elende, Menschen, die nicht Hohn verdienen, sondern Erbarmen.

DER TAGESSPIEGEL - Friedemann Kusche 26.10.1997

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